
Während auf dem Münchner Oktoberfest die Maßkrüge scheppern und der Dampf von knusprigen Brathendl durch die Festzelte zieht, nutze ich das letzte warme Herbstwochenende für einen Ausflug nach Italien. Ziel ist Ivrea – eine Kleinstadt irgendwo zwischen Mont Blanc und Mailand. Dreihundert Läufer haben sich für den Morenic Trail registriert und nur zwei weitere Namen auf der Startliste klingen verdächtig nach deutschem Ursprung. Ich freue mich auf einen Besuch bei den italienischen Ultratrail-Läufern.
Spät in der Nacht der Anreise versagt mein GPS und außer einem schwarzen Wildschwein befindet sich keine Seele auf den Straßen der Provinz Ivrea. Nach Mitternacht rufe ich den Gastwirt an, der mich daraufhin in italienischem Fahrstil zur Unterkunft lotst. In dem mittelalterlichen Gehöft treffe ich Wolfgang aus Bozen. Wolfgang entspricht einem der beiden erwähnten Einträge auf der Startliste; er spricht akzentfrei Deutsch und musste ebenfalls den Lotsendienst in Anspruch nehmen. Zur Sicherheit vereinbaren wir am nächsten Morgen gemeinsam zum Start nach Andrate zu fahren.
Vor mehreren hunderttausend Jahren wanderten Gletschermassen durch das Aosta-Tal und hinterließen dabei einen Gürtel aus Ablagerungen rund um Ivrea, der in seiner Form einem Amphitheater ähnelt. Der Morenic Trail verläuft halbkreisförmig auf diesem Moränen-Gürtel und umfasst eine Gesamtlänge von 109 Kilometern. Bildlich gesprochen verläuft die erste Hälfte bergab, die zweite Hälfte bergauf. Ich kenne keine bessere Möglichkeit diese Landschaftsform zu erfahren, als sie einmal komplett abzulaufen, deshalb spielt für Wolfgang die Platzierung auch keine Rolle, sondern für ihn steht das landschaftliche Erlebnis im Vordergrund. Mein Hauptziel ist der erfolgreiche Zieleinlauf und die damit verbundenen Qualifikationspunkte für den Ultra Trail du Mont Blanc.
Wir erreichen das verschlafene Bergdorf Andrate um 7:00 Uhr und nehmen die Startnummern in einer Nordic-Walking Schule entgegen. Die Atmosphäre bei der Anmeldung ist familiär und ruhig, so unterschreibe ich gutgläubig die Wettkampferklärung in italienischer Sprache. Wolfgang übersetzt die letzten Hinweise vor dem Start und kurze Zeit später fällt der Schuss.
Circa die Hälfte der Teilnehmer laufen in einer Vierer-Staffel und können auf ihren Streckenabschnitten ein höheres Tempo laufen als vergleichbare Läufer auf der Gesamtdistanz. So formiert sich unmittelbar nach dem Start eine schnelle Führungsgruppe. Die Gruppe ist mir deutlich zu schnell und ich lasse sie ziehen, behalte aber die Läufer vor mir im Auge, denn die Streckenmarkierungen sind spärlich verteilt. Aus der Ferne erkenne ich, wie die beiden Läufer vor mir dem Schotterweg nach links ins Tal folgen und dabei den Kamm verlassen. Als ich wenige Sekunden später diese Abbiegung erreiche, schimmert geradeaus oberhalb vor mir eine rot-weiße Wegmarkierung im Morgenlicht. Von den beiden Läufern ist längst nichts mehr zu sehen. Sie sind mit großen Schritten in Richtung Tal unterwegs; ich winke ihnen gedanklich hinterher und folge der Markierung bergauf.
Nun gebe ich Gas, bis ich vor mir den nächsten Läufer erkenne, denn allein und ohne GPS fühle ich mich unwohl. Etwa eine halbe Stunde später zweigt der Trail deutlich markiert, in einer scharfen Rechtskurve, vom Hauptweg ab. Die nächste T-Kreuzung ist nicht markiert, so stutze ich kurz, folge dann aber dem ausgetretenen Pfad talwärts. Nach etwa fünfhundert Metern drehe ich um und sammle die Läufer hinter mir ein. Mittlerweile hat sich eine Gruppe von zwanzig Läufern versammelt und wir erkunden gemeinsam alle vorhandenen Abzweigungen nach weiteren Wegmarkierungen: Keine Spur! Schließlich entscheiden sich zwei italienische Läufer, die ursprünglichen Markierungen an der Spitzkehre zu ignorieren und dem Hauptweg zu folgen. Ich schließe mich ihnen an und wenig später befinden wir uns wieder auf der richtigen Strecke. Mir wird nun klar, dass die Markierungen bewusst falsch gesetzt worden sind und das Rennen damit ab jetzt zum Orientierungs-Ultra ohne Karte mutiert.
Ich lasse die anderen Läufer nicht mehr aus den Augen. Wenig später passiert es erneut, wir zweigen scharf ab und nach etwa einem Kilometer stehen wir an einer Hauptstraße im Tal, ohne jede Spur von Markierungen. Der größere Teil der mittlerweile versammelten Gruppe läuft zurück bergauf. Ich schließe mich erneut fünf Italienern an und wir folgen dem Straßenverlauf. Wir atmen erneut auf, als wir kurze Zeit später auf einen Streckenposten stoßen.
In der ersten Hälfte des Laufes finde ich mich insgesamt viermal ratlos in der Landschaft wieder und suche den markierten Trail. Besonders hart trifft es einen der Staffelläufer. Er läuft deutlich schneller, überholt mich jedoch fast stündlich aufs Neue oder läuft mir entgegen. Mittlerweile grüßen wir uns, wenn wir uns sehen.
Wolfgang hat mich vor der ersten Hälfte des Laufes gewarnt. Meine Beine ächzen unter dieser langen, gleichmäßigen Bergab-Belastung. Die ersten Steigungen nach halber Strecke erzeugen Momente völliger Zufriedenheit. Taucht am Wegrand ein Campingtisch mit Keksen und Getränken auf, greife ich beherzt zu. Oft bin ich mir zunächst nicht sicher, ob es sich um einen offiziellen Verpflegungspunkt handelt oder einen privaten Posten. Ein besonders bizarrer Moment: Eine etwas beleibte Helferin schraubt vor meiner Nase eine Cola-Flasche zu, um danach selbst zu den Schinkenstreifen zu greifen. Die Temperaturen steigen bis auf dreißig Grad, das Läuferfeld wird dünner und ich genieße die schmalen, stillen Gassen italienischer Bergdörfer.
Am Abend taucht die Sonne die Landschaft in ein zartes Orange, die Luft kühlt merklich ab und ich traue meinen Augen kaum; vor mir taucht erneut der Staffelläufer auf. Wir tauschen einige Worte und er erklärt mir, dass er in einer Zweier-Staffel läuft und bei Kilometer 91 erneut an seinen Partner übergibt. Die Dämmerung treibt mich an, ich lege vor, er muss nachziehen und wir jagen uns bis zum nächsten Versorgungspunkt, wo er von seinen Freunden jubelnd empfangen wird. Am Campingtisch tanke ich auf – braunes Zuckerwasser bis zum Anschlag, ein Gel hinterher. Wir verabschieden uns herzlich und ich laufe in Richtung Ziel.
In der Dunkelheit verblasst die Landschaft zur grauen Kulisse, monoton traben meine Füße über die Pfade, Feldwege, den rauen Asphalt. Die letzten Kilometer werden immer länger, die Schritte kürzer. Der Zielort Brosso entspricht der Größe: Mehr Kühe als Einwohner. Erst im Ort höre ich die Musik vom Festzelt, sehe aber noch kein Licht. Bereit zum Zieleinlauf leitet man mich um; ich muss hinauf zur Kirche. Davor eine Treppe mit Pappschild und Schrift – ich frage mich was das soll und mache kehrt. Im selben Augenblick fängt mich ein Mann ab, zeigt auf die roten Steine auf der Treppe und deutet in Richtung Dorfmitte – alles klar! Ich nehme einen Stein in die Hand und laufe damit ins Ziel.
Nach dem Zieleinlauf winken mich die Einheimischen an ihren Tisch, sie reichen mir würzige Suppe, herzhafte Riesentortillas mit Käse und einen Becher Rotwein. Die Stimmung ist gut, hier fühle ich mich wohl.
Thomas Bohne