Festa Trail – Rock Festival in Frankreich




Wenige Minuten nördlich von Montpellier liegt St Mathieu-de-Tréviers – ein verschlafenes Dorf inmitten der französischen Cevennen. Der Ort hat zwei Bäckereien, eine Bar, einen Fleischer und eine Winzerei – was ein französisches Dorf eben ausmacht. Dicht dahinter ragt das markante Bergmassiv Pic Saint-Loup hoch hinaus, welches dem Wein in dieser Region seinen Namen gibt. In der Turnhalle, gleich neben der Schule, händigen ältere Damen die Startnummern aus, dazu gibt es Pasta und Rotwein. Quechua stellt die neue Kollektion vor und Vincent Dellabarre gibt ein Interview mit persönlichen Hinweisen aus seinem Trail-Running Erfahrungsschatz. Die Stimmung ist gelassen am Abend vor dem Lauf.

In der Nacht fahren uns Busse zum Start; einzig als der Bus in einer Serpentine hinten abrutscht, durchdringt ein Murmeln den Fahrgastraum. Kurz nach vier teilt der Bürgermeister des Dorfes Kuchen aus, eine Oma reicht Tee. Die Läufer haben sich praktisch ausgerüstet, keine Mode-Heinis oder Ultra-Freaks, sondern passionierte Bergläufer mit Erfahrung. Während der ersten 74 Kilometer werde ich locker laufen und dann schauen, was noch möglich ist. Eine irre Taktik – macht man sich klar, dass bis dahin bereits 4000 Höhenmeter auf dem Programm stehen.

Noch in der Dunkelheit gibt der Bürgermeister das Startkommando und wir traben in die Nacht. Gleich beim ersten Anstieg wird deutlich: Die Strecke besitzt Charakter. Durch Gestrüpp und über scharfkantige Felsen erreichen wir einen Grat, einfache Kletterei auf weißen Felsformationen im Morgengrauen. Was in mir leichte Bedenken auslöst, hört sich aus der Perspektive eines Team Salomon Läufers aus Korsika wie folgt an: “It’s easy, I like rocks, that’s why I am here.”

Nach 22 Kilometern erreichen wir die engen Gassen des Bergdorfes Saint-Guilhem-le-Désert und laben uns an diesem ersten Verpflegungspunkt. Es gibt Trockenobst, Bananen und Kuchen, aber wir haben es eilig. Danach trotte ich mit zwei Läufern den nächsten Anstieg hinauf. Wir laufen ruhig und gleichmäßig, die Stöcke in der Hand, fast wie Jäger zu Urzeiten. Als einer der Läufer vor mir auf einem Flachstück nicht sofort in den Laufschritt übergeht, fordere ich ihn auf: “Allez!”. Er zögert zunächst, beide beginnen aber zu laufen. Scheinbar war er irritiert, denn wie sich später herausstellt, ist es ein Top Läufer vom Team Salomon Frankreich (UTMB sub 25h). Kurz danach bin ich allein, die beiden lassen mich ziehen.

Beim Festa Trail findet man sie in allen gängigen Größen und in jeder vorstellbaren Kombination: Steine. Kaum ein Meter der Strecke ist eben, überall ragen scharfe, spitze, flache oder runde Steine hervor. Einige verstecken sich im Gras, andere liegen lose aufeinander – einige Passagen sind mörderisch. Nicht selten zweifle ich, ob ich noch auf der Strecke bin oder das Geröllfeld vor mir ein schlechter Scherz sei, aber die orangen Streckenmarkierungen sind eindeutig. Besonders gefährliche Stellen sind zusätzlich ausgezeichnet, allerdings zählt dazu ausschließlich kniehoher Stacheldraht – alles andere ist schließlich absehbar.

Judy sendet mir meine Position per SMS: Platz Sieben! Was sie nicht weiß: Neben mir läuft Platz sechs. Uns Läufern ist klar, dass wir bis Roc Blanc (66 km 4025 Hm) mit unseren Kräften haushalten müssen, um den Lauf zu überstehen und den Salomon Jungs hinter uns Parole bieten zu können. Daher traben wir von nun an gemeinsam über die schmalen Höhenwege, warten an den Verpflegungspunkten aufeinander und halten beide Ausschau nach Streckenmarkierungen.

Nach mehr als sieben Stunden laufen wir in das Dorf St-Jean-de-Buègues ein. Auf einem Plastikstuhl am Verpflegungspunkt sitzt Läufer Nummer fünf mit blutverschmierten Beinen. Instinktiv füllen wir unsere Vorräte und brechen nach nur wenigen Sekunden auf. Als wir am Dorfausgang ein riesiges Tablett mit Obstbergen passieren, greife ich hastig in die Erdbeeren, denn im Augenwinkel erkenne ich, wie bereits ein Verfolger um die Ecke biegt – vormals Nummer fünf sitzt uns im Nacken.

Die Sonne brennt erbarmungslos auf unsere Köpfe, während wir in der Mittagshitze die Serpentinen des nächsten Anstieges emporschrauben. Ich kneife meine Augen zusammen, um ihn zu erkennen, und er ist es tatsächlich: Nummer vier läuft wenige Serpentinen vor uns. Er wirkt müde als wir ihn passieren. Auf dem Gipfelplateau angekommen, steigen wir direkt wieder ab, um uns dem letzten langen Anstieg zu stellen: Roc Blanc. Wir laufen auf Position vier und fünf.

Roc Blanc verlangt mir viel ab; steil und schroff windet sich der Pfad bergauf, ehe wir über massive Felsblöcke tanzen, wie zwei müde Gazellen auf dem Weg zum Wasser. Einen Pfad erkenne ich nicht, nur die roten Punkte weisen die Richtung durch Latschen und über tiefe Spalten hinweg. Der letzte lange Abstieg hat es in sich; kaum sichtbar zieht sich der Trail durch felsverminte Wiesen, schießt schließlich als ausgewaschenes Bachbett steil bergab und bricht mir fast die Knochen. Im Tal angekommen, sind es noch 46 Kilometer und 2000 Höhenmeter bis ins Ziel. Ich verabschiede mich freundlich von meiner Begleitung, denn nun beginnt die Jagd auf Platz drei.

Auf den folgenden sechs Kilometern schmelze ich meinen Rückstand um mehr als zehn Minuten ein. Endlich – bei Kilometer 86 empfängt mich Judy und drückt mir drei Gels in die Hand. Danach explodiert mein Körper förmlich auf dem Trail und ich fliege am Drittplatzierten vorbei. Allerdings kostet die Aufholjagd Kraft, meine Gels sind aufgebraucht und mein Magen rumort unerwartet – jetzt wird es richtig hart! Von den Anstiegen sehe ich, wie mir meine Verfolger auf den Fersen sind. Es dämmert bereits und der Pfad verschwimmt im diffusen Schein; wie betrunken stolpere ich über die kopfgroßen Steine des kilometerlangen Bachbettes. “Scheiße” – fluche ich laut!

Das Ziel ist noch fast zwanzig Kilometer und 600 Höhenmeter entfernt. Die flachen Stücke laufe ich zügig und konzentriert, bergauf nutze ich meine Stöcke bis zum Verbiegen und trotzdem brennen meine Oberschenkel jeden Meter. Die Landschaft präsentiert sich unbarmherzig: Von Erosion zerfräste Platten und Geröllfelder zeichnen eine Spur des Schreckens bis zum Ortseingang von St Mathieu-de-Tréviers. Hinter dem Ortsschild wartet Pierre Toussaint, der Organisator der Veranstaltung, auf mich. Wir laufen gemeinsam ins Ziel und treffen drei Minuten nach dem Zweitplatzierten ein.

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