Der Ultra Trail Atlas Toubkal (UTAT) führt durch die raue und bezaubernde Landschaft des hohen Atlas in Marokko. Entlegene Bergdörfer mit fast vergessenen Völkern begegnen uns Läufern mit Herzlichkeit, während steile Pfade in großen Höhen alles von unseren Körpern abverlangen.
Auf nach Afrika!
Die Turbinen summen, mein Magen knurrt und meine Knie sind am Sitz des Vordermannes arretiert. Es ist noch früh am Morgen als die spanische Crew die monotone Gehirnwäsche der Sicherheitsanweisungen durch die Flugzeugkabine plärrt. Denis, auf dem Sitz neben mir, verweigert die visuelle Wissensaufnahme, ist allerdings hellwach als die Dame vor ihm ihre Rückenlehne gegen seine Oberschenkel einrastet. Frühstück serviert die Crew nur hinter den Vorhängen der Businessklasse, wir gehen dagegen leer aus.
Mit einem strahlend blauen Himmel begrüßt uns der nordafrikanische Kontinent auf dem Flugfeld von Marrakesch. Wenig später brausen wie in einem Kleinbus voller Franzosen gen Süden in Richtung Horizont, wo sich die grauen Silhouetten des hohen Atlas bereits abzeichnen. Still mustere ich die Busbesatzung: Hagere und ausgezehrte Typen tragen Funktionsbekleidung und schnattern leicht nervös aber heiter und fließend Französisch. Ich frage mich, ob sie vielleicht wissen, worauf ich mich bei diesem Rennen eingelassen habe.

Der Blick aus dem Fenster verrät: Tontöpfe und Spiegel gibt es hier zuhauf. Eine schmale Straße windet sich hinauf in das höchste Skigebiet Marokkos: Oukaïmeden. In Oukaïmeden befindet sich unser Basislager und der Start für unseren Lauf. Die Tür des Kleinbusses springt auf und ein frischer Wind pfeift mir um die Ohren; es duftet nach frischen Kräutern und Schafen auf der Hochebene.
Wenig später kontrollieren Denis und ich unsere Pflichtausrüstung und erfahren letzte Details für den folgenden Tag: 105 Kilometer, 6500 Meter positiver Anstieg und auf einem Teilstück von 38 Kilometern keine Versorgung. Pierre, ein Freund aus Saint Mathieu de Tréviers, ermahnt mich, auf diesem Teilstück genügend Wasser mitzuführen. Ich erwidere lässig: “Yes, no problem” und falle schlagartig in innere Schockstarre: Wie soll ich ausreichend Wasser für 38 Kilometer staubtrockenes marokkanisches Hochgebirge mitführen? Ein Beutel mit Wechselkleidung und Ausrüstung wird bei Kilometer 89 deponiert – allein diese Tatsache spricht für sich.
Am Abend findet die offizielle Wettkampfbesprechung statt – selbstverständlich auf Französisch – und ich verstehe kein Wort. Pierre flüstert mir die wichtigsten Fakten in gebrochenem Englisch ins Ohr und drückt mir unverhofft ein Mikrofon in die Hand. Da kündigt auch schon der Sprecher die englische Version an und ich begrüße die internationalen Teilnehmer zur Wettkampfbesprechung.
Es ist bereits dunkel, als wir die großen weißen Zelte betreten: Der Boden ist mit weichen, roten Teppichen bedeckt, Tische und Stühle sind mit edel besticktem weißen Stoff umhüllt. Nicht weniger glanzvoll liest sich die Liste der Namen an unserem Tisch: Oscar Perez (Sieger Tor des Geants), Rachid Morabity (MDS Sieger 2012), MDS-Legende Lahcen Ahansal und Sebastien Nain.
Dünne Luft, die Zeltwände unseres Zweimannzeltes flattern und das Gestänge knarzt – ich kann nicht schlafen und muss raus. Draußen rauscht der Wind lebendig über die Ebene und die Sterne leuchten hell. Ich mache mir Sorgen um Denis; es geht ihm nicht gut. Im diffusen Licht erkenne ich vor dem Frühstückszelt bereits eine Schlange. Es gibt Kaffee, Brot, Bananen und Datteln – wie es sich für ein Frühstück in Marokko gehört.
Into the wild
Das Feld prescht los und stürmt wie eine wilde Schafherde ins kalte Nass des ersten Baches – schmunzelnd laufen Denis und ich eine Bogen, wohl wissend, dass nasse Füße nicht nur angenehm kühl sind. Wir traben an verlassenen Hütten vorbei, aus deren Fenstern hängt vertrockneter Mist – die Nomaden befinden sich bereits in ihrem Winterquartier weiter südlich. Dann fällt Denis etwas zurück, bleibt aber in Sichtweite. Bergab schießt er wie eine Rakete an den Franzosen vorbei und schließt zu mir auf – wieder leichtes Schmunzeln.
Es stinkt im Tal, zwischen den Hütten liegt Müll und Hühner flattern mir entgegen. Kinder blicken mich neugierig mit ihren großen Augen an oder strecken mir lächelnd ihre rabenschwarzen Hände entgegen. Sorry Jungs, muss keimfrei bleiben! Kurze technische Abschnitte geben einen Vorgeschmack dessen, was mich erwartet. Bei Kilometer 20 erreichen wir die erste Verpflegungsstation. Hier trennen sich unsere Wege, denn Denis hat sich entschieden auf Marathondistanz zu verkürzen.
Mein Weg verläuft weit oberhalb einer gewaltigen Schlucht. Auf deren gegenüberliegenden Seite kann ich entfernt einen Bergpfad ausmachen, der sich steil und wild in die Berge windet. Mein Herz schlägt höher – allzu gern möchte ich die Schotterpiste verlassen und diesem Pfad folgen, da taucht vor mir der Versorgungspunkt mit Wasser bei Kilometer 30 auf. Pierres warnende Worte liegen mir in den Ohren, denn jetzt folgen 38 Kilometer Wildnis. Mit einer randvollen Trinkblase laufe ich los, hinein in die steile Schlucht, in Richtung des ersehnten Pfades.
Im zweiten langen Anstieg geht mir die Luft aus, mein Herz rast aufgeregt und der Pfad verschwimmt vor meinen Augen. In kräftigen Zügen sauge ich unaufhörlich Wasser aus meiner Trinkblase, wohl wissend, dass so die Vorräte nicht bis zum nächsten Versorgungspunkt ausreichen, denn dieser ist noch 20 Kilometer und zwei Gebirgspässe entfernt. Immer wieder muss ich halten und verschnaufen, der Horizont rotiert vor meinen Augen – ich bin am Ende! Bereit zur Aufgabe schniefe ich die letzten Meter bis zum nächsten Pass, wo mir hoch oben der Wind bedrohlich um die Ohren pfeift. Als ich meinen Kopf hebe, blicke ich in die Gesichter zweier Hirtenjungen. Die beiden sitzen seelenruhig vor mir, mit einem Eimer voller Getränkeflaschen – die stilechten aus Glas. Unendlich dankbar drücke ich diesen zwei Engeln meinen größten Geldschein in die Hand, lasse mich neben ihnen in den Staub fallen und betrachte das gigantischen Panorama mit sprudelnder Fanta im Rachen.
In einiger Entfernung sehe ich einen giftgrünen Punkt, der sich sehr langsam vorwärts bewegt: Die marokkanische Rakete vom Team Quechua humpelt, dehnt sich augenfällig, spricht aber leider nicht meine Sprache. Mit einem aufmunternden Klaps lasse ich ihn zurück, denn er kommt sicher weiter – dauert heute eben länger. Der Trail führt vorbei an den rotbraunen Lehmhütten der Berber, die hier in völliger Abgeschiedenheit leben. Einige bewirtschaften ihre Felder, andere waschen sich in klaren Gebirgsbächen, wie wir sie mehrfach durchqueren. Sehen sie mich, richten sie sich auf und winken freundlich bzw. ziehen sich schnell Ihre Sachen an. An einem der zahlreichen Wasserfälle füllt ein französischer Läufer seine Trinkblase – wir plaudern kurz und verabschieden uns freundlich, denn mir geht es inzwischen wieder gut. Besonders diese Momente bleiben mir in Erinnerung.
Unter 2800m Höhe funktioniert mein Körper, darüber herrscht Ausnahmezustand. Zum Glück liegen jetzt die beiden höchsten Pässe vor mir: 3000m und 3500m. Mit der Eleganz eines Zombies schiebe ich mich hechelnd gen Sonnenuntergang. Auf 3500 Metern kann mir auch der leuchtende Horizont keine Farbe ins Gesicht zaubern und die Ärzte fragen besorgt: “How are you?” Ich erwidere ein freundliches “I feel like shit”, bevor sie mich in die “technische Passage” entlassen. Wenn Franzosen vor technischen Abschnitten warnen, ist ein klarer Kopf angebracht. Halbtrunken stolpere ich an den gespannten Halteseilen vorbei und befinde mich in fünf Kilometer Steilgelände. Die fast senkrecht abfallende Schutthalde ist mörderisch und es kam was kommen musste: Ich rutsche aus und schlage hart mit dem Ellenbogen auf einen Felsblock. Mein erster Gedanke: Ist nur der Arm, du kommst runter. Danach betrachte ich das Loch in meiner geschätzten Patagonia Jacke und begutachte die Wunde: Nichts gebrochen! Wie die Läufer nach mir diesen Abstieg bei Nacht meistern sollen, erscheint mir völlig unklar.
Am letzten Versorgungspunkt mache ich Pause, esse Suppe und wasche meine Hände. Die Wechselkleidung bleibt im Beutel, denn bis ins Ziel sind es noch 18 Kilometer, 1600 Höhenmeter und sowohl der Läufer vor mir als auch meine Verfolger sind weit entfernt. Wie Schumi mit zwei Runden Vorsprung laufe ich hinaus in die Dunkelheit, in Richtung Oukaïmeden. Im Ziel empfängt mich Pierre mit einem Bier und ich freue mich beide zu sehen. Auch Denis ist aus dem Häuschen und er sieht nach dem Marathon besser aus als vorher.
UTAT 2012 from jean olivier on Vimeo.
Wunden lecken
Läufer befinden sich noch auf der Strecke, darunter auch einige deutsche Teilnehmer. Ich frage mich, wie sie wohl die Nacht verbracht haben und wie es ihnen jetzt geht. Heute bilden die Mahlzeiten einen fließenden Übergang. Zahlreiche Unser Mittagstisch ist phänomenal besetzt und wir schwelgen in französischer Küche und deutschem Bier. Sowohl Oscar Perez als auch Sebastien Nain (Platz 3) reisten unvoreingenommen nach Marokko und bekommen jetzt noch leuchtende Augen, wenn sie von den zurückliegenden Eindrücken berichten.
Mein Körper ist noch völlig entkräftet, umso mehr genieße das Abendessen im Kreise der Läufer. Nur der kalte Wind fährt störrisch unter die schweren Zeltwände. Nach dem letzten Bissen verschwinde ich mit Denis und wir lauschen dem Flattern der Zeltwände. Wird Zeit, dass wir wieder nach Deutschland kommen, denke ich.
Vier Tage lang waren wir Teil afrikanischer Wildnis und erlebten sie so, wie sie sich uns präsentiert: rau und wunderschön. Wer sich auf dieses Abenteuer einlässt, bereitet sich besser gut darauf vor. Auch wir mussten das lernen. Statt Gels gibt es gekochte Kartoffeln, statt Rettungshubschraubern Esel und statt Zecken Skorpione. Wir kommen wieder, nächstes Mal mit mehr Zeit!