Gäbe es das Buch “1000 Places To See Before You Die” in einer Sonderausgabe für Trail Runner, wäre der folgende Eintrag ganz gewiss darin aufgeführt: Rim to Rim to Rim (R2R2R). Die Strecke führt vom Südrand des Grand Canyon hinunter zum Colorado River, durch den Canyon hindurch, hinauf zur Nordkante und wieder zurück – ein achtzig Kilometer langes Abenteuer im Wilden Westen der USA mit über dreitausend Höhenmetern Auf- und Abstieg. Große Namen der Trail-Szene haben hier bereits mehrfach ihre Spuren und Schweißtropfen im Staub hinterlassen: Dakota Jones, Anton Krupicka, Krissy Moehl sind einige davon. Für mich gibt es keine bessere Möglichkeit, diese gewaltige Landschaft in ihrer Schönheit und Vielfalt und mit ihren zahlreichen Bewohnern so zu erleben, wie sie sich uns präsentiert.
Mein Sports-Utility-Vehicle (SUV) summt leise und einsam durch die nordamerikanische Prärie. Schier unendlich erstrecken sich die gelben Grasflächen zu beiden Seiten der Fahrbahn. Es braucht nicht viel, um sich vorzustellen, wie hier einst die Cowboys ihre Kuhherden gen Sonnenuntergang trieben. In einer winzigen Siedlung biege ich auf den Highway 64 West zum Grand Canyon Village ab. Die schmale Straße führt allmählich hinauf auf über 2000 Meter und lässt die Temperaturen stetig fallen. Zu meiner Rechten zeichnen sich im Schein des Vollmondes die grauen Silhouetten der gewaltigen Schlucht ab, jedoch wird plötzlich meine Aufmerksamkeit zurück auf die Straße gelenkt und muss schlagartig bremsen: Ein riesiger Wapiti steht im Scheinwerferlicht und starrt mich an. Diese Tiere sehen unserem europäischen Rothirsch ähnlich, sind allerdings noch größer. Ich hupe ihn freundlich an, da trottet er gelassen zurück ins Gebüsch.

Gegen 20:30 Uhr parke ich vor dem Pförtnerhäuschen am Eingang des Mather Campground beim Grand Canyon Village – es ist dunkel und kalt hier oben. An der Seite des Häuschens hängt eine Liste mit Namen, darunter zu finden: Thomas Bohne, Zelt, Platz 168. Passt ja, denke ich und lasse meinen Blick auf die fetten Buchstaben unterhalb der Liste schweifen: “If you arrive late at night, you must register here the next morning or your space will be given away. Opening hours: 08:00 o’clock …”. Mehr muss ich nicht lesen, um zu verstehen, dass diese Information erhebliches Konfliktpotenzial zu meinem Plänen birgt. Bereits früh morgens wollte ich aufbrechen, um der brütenden Tageshitze im Canyon zu entgehen. Daraus wird jetzt nichts, denn ich will meinen Zeltplatz nicht verlieren.

Kurz nach acht Uhr habe ich erfolgreich am Zeltplatz eingecheckt und warte an der Bushaltestelle vor dem Campingplatz auf das Shuttle zum South Kaibab Trailhead. Der South Kaibab Trail ist die steilere und kürzere Variante hinunter zum Colorado River als der Bright Angel Trail. Mit am Busstop steht ein deutsches Wandererpärchen. Beide sportlich, mit großem Rucksack ausgestattet und bei bester Laune, scheinen sie doch überrascht, einen deutschen Läufer hier anzutreffen und noch dazu, als ich ihnen meine Tagesetappe erläutere. Dass mir die wilden Tiere mehr Sorgen bereiten als die achtzig Kilometer Streckenlänge, stößt endgültig auf Unverständnis. Neben den gängigen Klapperschlangen und Skorpionen siedeln hier Pumas, Kojoten und Luchse – das sind diese etwas größeren Katzen mit unglaublich schönen Augen und kurzem Schwanz. Im Gegensatz zu Hauskatzen verdrücken diese auch größere Beute. Wilden Tieren begegne ich grundsätzlich mit großem Respekt, besonders den Tieren, die in extremen klimatischen Bedingungen überleben müssen.

Um 08:30 Uhr stehe ich am Trailhead und blicke erstmals über Südrand des Canyons – whoa! Nicht auszumalen, wo auf der anderen Seite der Trail wieder hinaufführen soll. Die Nordseite gleicht einer mächtigen, senkrechten Steilwand. Die Sonne steht bereits hoch und brennt kräftig auf den roten Fels – ich bin spät dran. Als ich freudig in die Tiefe trabe, hecheln mir die ersten Wanderer schwer bepackt entgegen. Der Trail ist technisch einfach, staubig und riecht ab und zu nach Muli. Lediglich die treppenartigen Absätze und Wasserableitungen bringen mich konstant aus dem Rhythmus. Auf dem South Kaibab Trail werden fantastische 360° Panoramen und Fossilien geboten — eine Fotopause folgt der nächsten! Unterwegs passiert mich eine Maultierkolonne mit richtigen Cowboys, die Proviant für die Ranches im Canyon befördert. Der starke Akzent und der nicht minder strenge Geruch dieser Jungs ist deren bestimmendes Merkmal. Echter Wilder Westen! Im Abstieg nippe ich vorsichtig am Schlauch meiner Trinkblase. Bähhhh! Das Wasser schmeckt richtig übel, dabei habe ich die Blase erst vor wenigen Minuten gefüllt. Nach etwa einer Stunde bergab erreiche ich den grün schimmernden Colorado River — die Lebensader des Südwestens der USA — und kurz darauf die Phantom Ranch, eine idyllische Siedlung aus Hütten und Zelten für Touristen. Das deutsche Pärchen wird hier übernachten, bevor sie — wie die meisten Wanderer — am darauffolgenden Tag über den Bright Angel Trail oder den South Kaibab Trail wieder zum Grand Canyon Village aufsteigen. Vor dem Ab- und Aufstieg am gleichen Tag warnen zahlreiche, anschauliche Hinweistafeln. Nicht auszudenken, wie eine Warnung vor dem R2R2R aussehen würde. Der Trail schlängelt sich entlang eines Baches durch eine enge Schlucht mit hohen, senkrechten Wänden. Die Felswände bieten ausreichend Schatten für sattes Grün und ein angenehm feuchtwarmes Klima.
Nach wenigen Kilometern schließe ich zu einem Läufer auf – er heißt Jeff und kommt aus Minnesota. Jeff ist mit seinem Vater und seinem Onkel bereits seit drei Tagen in der Phantom Ranch zu Gast und seine Begleiter haben heute Ruhetag. Deshalb trabt Jeff allein in Richtung Tagesziel: die rauschenden Wasserfälle in einigen Kilometern Entfernung. Als sich unsere Wege trennen, ist der Canyon breiter geworden und Kakteen, Sträucher und Dornbüsche bestimmen nun die Vegetation. Flink flitzen kleine und größere Echsen durch meine Füße und ich denke: Wo das Futter ist, ist auch der Jäger nicht weit! Nach ca. 25 Kilometern erreiche ich das Cottonwood Camp, fülle frisches Wasser in die Trinkblase und stülpe mir das klatschnasse Buff über den Kopf, denn es ist heiß geworden. Mein Magen rumort. Im Dickicht baut ein alter Greis sein Zelt auf, ganz still und allein. Als ich ihn bemerke, rufe ich ihm zu, ob alles okay ist. “Die Fliegen werden schlimmer”, erwidert er. Wenige Minuten später lasse ich das Rangerhaus rechts liegen und trabe den Anstieg zum North Rim hinauf. Spektakulär ist der Pfad in den roten Fels gefräst; den Abgrund immer vor Augen passiere ich Millionen, ja sogar Milliarden Jahre alte Gesteinsschichten und bin fasziniert von den einzigartigen Formen und Farben. Auf der anderen Seite tosen Wasserfälle — die Ribbon Falls — die Wand hinunter und dann plötzlich: Bäääämmm! Das war kein Schuss, eher eine Explosion ganz in meiner Nähe. Der Weg wird steiler, ich fotografiere und spiele mit dem Licht. Mein Magen beruhigt sich nicht, mir fehlt die Energie und ich muss gehen. Oberhalb einer Brücke sitzen zwei Arbeiter, neben ihnen liegt Sprengvorrichtung. Als ich sie freundlich bitte, mich nicht in die Luft zu jagen, grinsen sie. Die sprengen hier tatsächlich den Weg frei, fährt es mir durch den Kopf, als ich durch einen Tunnel über die Trümmerteile steige. Am Tunnelausgang arbeitet eine Schar Männer mit Spitzhacken und Presslufthämmern. Die Wasserstelle am Tunnelausgang ist trocken, meinen sie. Und tatsächlich, es tut sich kein Tropfen. Auch oben am Trailhead ist alles abgestellt, wegen dem Frost, sagen sie. Die Straße öffnet erst am 15. Mai. “Brauchst du Wasser?”, fragt der Arbeiter mit dem längsten Vollbart? “Nein danke, ich habe noch Wasser”, entgegne ich und denke: Wird schließlich auch kühler da oben. Ich laufe weiter und treffe auf weitere Arbeiter und Maultiere. Sie bereiten den Weg für die Hauptsaison vor. Eine Läuferin kommt mir entgegen. Sie ist bereits auf dem Rückweg und trabt locker bergab. Ich hoffe mir geht es bald besser.

Nach vierzig Kilometern und fünf Stunden stehe ich an der Nordkante. Im Schatten der Fichten liegt Schnee und eine frische Brise weht durch mein Shirt. Der kleine Kiosk ist geschlossen, nur ein Ranger fährt vorbei. “Hier kommen derzeit nur Läufer und Arbeiter hoch, die Straße ist 45 Meilen unterhalb gesperrt”, sagt er ruhig. “Wie lange hast du gebraucht?” “Fünf Stunden”, erwidere ich. Der Abstieg tut gut, die Muskeln in den Beinen lockern auf und der lose Sand federt jeden Schritt wie ein Kissen. Mein Wasservorrat ist endgültig aufgebraucht aber ich will nicht fragen, drücke dafür einem Arbeiter ein paar meiner Cliff Bars in die Hand. Die bekomme ich eh nicht runter ohne Wasser. Unten am Rangerhaus fülle ich die Trinkblase auf. Beim ersten Schluck muss ich spucken. Das Wasser schmeckt so widerlich, dass ich würgen muss. Eine Mischung aus Chlor, Öl und Eisen liegt mir auf der Zunge. Um die Brühe möglichst schnell an meiner Zunge vorbeifließen zu lassen, ziehe ich in tiefen Zügen. Die Sonne brennt erbarmungslos in den Canyon, alles raschelt um mich herum. Beim Cottonwood Camp treffe ich wieder auf den Alten. Sein Zelt steht jetzt und ich setze mich zu ihm auf eine Bank. Er erzählt mir von seinem Zuhause in Las Vegas und dass er seit vier Jahren in den Canyon zum Zelten kommt. Kurz vor der Phantom Ranch hole ich die Läuferin ein. Sie hat Blasen und muss gehen. Das Wasser? “Schmeckt scheußlich”, meint sie. Sie nimmt den South Kaibab am Ende, will fertig werden. Ich entscheide mich für den fünf Kilometer längeren Bright Angel Trail, denn ich bin neugierig und meine Beine fühlen sich gut an.

An der Phantom Ranch ruft jemand meinen Namen. “Thomas?” Die deutschen Wanderer haben mich erkannt und fragen nach meinen Erlebnissen. “Gefährlichen Tieren bin ich nicht begegnet aber jeder Kilometer ist ein Erlebnis. Einfach wunderschön!”, beschreibe ich die letzten Stunden und verschweige dabei die brodelnde Chlorbrühe in meinem Bauch. Ich eile weiter in Richtung Bright Angel Trail, doch bereits beim ersten Anstieg fehlt mir die Kraft und ich beschließe zu gehen. Im Farbenspiel des Abendlichtes schimmern die Felsen goldbraun, der grüne Colorado rauscht lebendig dazwischen. Plötzlich halte ich inne, stehe wie angewurzelt und bewege mich keine Millimeter. Der Beitrag im Trail Magazin von Philipp Reiter schießt mir in den Kopf: Immer vorausschauend laufen, niemals den Blick nur wenige Meter vor sich richten. Da liegt sie, ganz still, prächtig und anmutig, seelenruhig – eine einmeterlange Klapperschlange wärmt sich lang ausgestreckt auf dem Pfad vor mir. Nach den Begrüßungsfotos will ich weiter, doch die Schlange reagiert nicht auf mein Stampfen, ist scheinbar gemütlich auf dem warmen Sandboden. Vorsichtig mache ich einen Bogen und stapfe weiter bergauf, achte auf jeden Tritt. Mir fehlt die Energie und so werden die letzten Kilometer sehr lang und in der Dunkelheit noch viel länger. Nach ca. 12 Stunden erreiche ich das Grand Canyon Village, sehr müde und kalt aber zufrieden.

Der Morgen nach dem Lauf beginnt für mich mit einem Frühstück im Hotel El Tovar. In klassischem Ambiente tanzen die Kellner wie Bienen um mich herum und sind um mein Wohl bemüht. Sie servieren das denkbar deftigste Frühstück zur vollständigen Wiederherstellung meiner Geschmacksnerven und Energiereserven.
Thank you Jim McLaughlin for this wonderful recommendation!
Wahnsinnig tolle Fotos! Schleppst du deine Kamera mit auf deine Trails? Lg Eva 😉
Danke! Alles für die Leser 😉
Hey Thomas, Danke für den tollen Bericht und die Erzählungen gestern beim Revierguide. Der R2R ist jetzt noch weiter nach oben gerückt auf meiner “1000 Places To Run Before You Die” Liste 😉
Danke! Coole Runde gestern in den Kasseler Bergen.