
Der Ultra-Trail du Mont-Blanc (UTMB) ist einer der anspruchsvollsten Trailläufe Europas und führt seine Teilnehmer auf einer 168 Kilometer langen Strecke mit 9600 Höhenmetern non-stop um das Dach Europas herum. Neben dem eigentlichen UTMB können sich die Teilnehmer für die kleinere aber nicht wesentlich zahmere Schwester, den Courmayeur – Champex – Chamonix (CCC), oder den Sur les Traces des Ducs de Savoie (TDS) registrieren.
Der Petite Trotte à Léon (PTL) zählt ebenfalls zur Serie der Läufe des UTMB, findet aber unter besonderen Rahmenbedingungen statt. Dieser Lauf startet bereits am Montagabend in Chamonix und endet sechs Tage später am gleichen Ort, dem Place Triangle de l’Amitié. Die Teilnehmer dieses Abenteuers finden sich in Zweier- und Dreierteams zusammen, bewegen sich in völliger Autonomie um den Mont-Blanc und “drehen zusätzlich noch eine Schleife durch ein anderes Gebirge”, formulierte der deutsche Teilnehmer Thomas Eller lässig. Von den 91 Teams befand sich dieses Jahr nur ein einziges deutsches Team auf diesem Parkour: “Les émeus rampants” (die schleichenden EMUs). Thomas Eller hat sich kurzfristig beim Frühstück am Montagmorgen im Deutschen Haus dazu entschlossen, das Team von Uwe Herrmann und Eric Türlings zu ergänzen. Die 288 Kilometer lange Strecke mit 25 000 Höhenmetern hat es in sich, so müssen die Teams selbstständig navigieren und werden nur an drei Labestationen versorgt. Sie passieren auf ihrem Weg nicht weniger als 33 Bergpässe und bewältigen schwere alpine Passagen bei Nacht und bei schlechtem Wetter. Bewusst wird bei dieser Kategorie auf eine Wertung verzichtet: Ankommen ist das Ziel!
Leider steht Thomas Eller zu unserer Überraschung am Mittwochmorgen völlig entkräftet, kalt und durchnässt in der Küche des Deutschen Hauses und berichtet den staunenden Gesichtern über die Strapazen der letzten Nacht, die das Team zur Aufgabe gezwungen haben. Das schlechte Wetter zu Beginn dieses Laufes setzte vielen Teams schwer zu und führte bereits in der ersten Nacht bei 12 Teams zur Aufgabe. Insgesamt konnten 43 Mannschaften den Lauf erfolgreich beenden, davon legten 31 die Gesamtdistanz zurück.
Als Tom, Bernie, Jan und Bei am Freitagmorgen bereits im Bus nach Courmayeur sitzen, schläft das Deutsche Haus noch tief. Später beim Frühstück verfolgen wir den Start des CCC per Ultratrail TV, dem online TV-Programm des UTMB. Der CCC führt seine Teilnehmer über 101 Kilometer und 6100 Höhenmeter von Courmayeur in Italien über Champex-Lac in der Schweiz nahezu vollständig auf der UTMB-Nordschleife nach Chamonix und bietet einen Vorgeschmack dessen, was der große Bruder an Herausforderungen bereithält. Direkt an der Startaufstellung kontrollieren Mitarbeiter der Organisation stichprobenartig die Ausrüstung einzelner Läufer. Extreme Wetterbedingungen und Notsituationen bei Trailläufen vergangener Jahre ließen die Pflichtausrüstung der Teilnehmer deutlich anwachsen und ziehen diese drastischen Konsequenzen nach sich. Der Start der 1901 Teilnehmer des CCC erfolgt in drei Gruppen zeitversetzt.

Während Tom am ersten Pass mit Schwindel kämpft, befinden sich Jan, Bernie und Bei unterdes weiter hinten im Feld und marschieren im Gänsemarsch den 1500m-Anstieg zum Tête de la Tronche hinauf. Jan fühlt sich dabei an seine Heimat erinnert: “Das ist wie in Polen vor 30 Jahren. Da standen diese langen Schlangen vor den Geschäften.” Champex Lac hingegen gleicht eher dem Rummel wie auf dem Oktoberfest: Während sich die Masse der Läufer inbrünstig an Speisen und Getränken labt und dabei halbe Kuchen verdrückt, liegen einige zitternd und röchelnd auf Bänken und Tischen. Bernie hat hier die Linzer Törtchen entdeckt, schlürft dazu ein Tässchen Kaffee und beobachtet das wilde Treiben im Zelt mit argwöhnischer Neugier. Unser Küchenchef Jan ist begeistert von der Verpflegung auf der Strecke: “Überall gab es Nudelsuppe, an den großen Stationen sogar warme Spaghetti; die habe ich natürlich gegessen. Und die Salami erst — großartig!” Erfahrungsgemäß kehrt Jan bei Wettkämpfen gemütlich auf Berghütten ein und ordert lokale Spezialitäten. Da er sich diese Zeit beim CCC sparen konnte, lief er diesmal prompt auf Platz Eins unserer internen Hauswertung.
Der Start vom großen Bruder gleicht einem Rock Festival der Superlative: Die Zuschauermassen schieben sich durch die viel zu engen Gassen von Chamonix, Fotoapparate klicken und Catherine Poletti tanzt berauscht vor der tobenden Menge, während die Stars der Szene mit großen Schritten einmarschieren. Die Stimmung im Feld ist elektrisiert. Alle sind sie heute hier versammelt: Julien Chorier, Miguel Heras, Tony Krupicka, Mike Wolfe, Sébastien Chaigneau, Nuria Picas und dann das gigantische Feld der 2500 Läufer. Alle vereint sie ein gemeinsames Ziel: Sie wollen um diesen weißen Riesen laufen, so schnell und kraftsparend wie möglich. Als sich schließlich das Feld zur Vangelis-Hymne in Bewegung setzt, blicke ich in zahlreiche feuchte Augen. Es sind diese Momente, die diesen Lauf unvergleichlich werden ließen.
Nach etwas vierzig Kilometern schaltet die Spitze des Feldes in Les Contamines ihre Stirnlampen ein und trabt in die Nacht. Durch die Startzeit am Nachmittag kommt beim UTMB auch die Spitze des Feldes in den Genuss durch die Nacht zu laufen. Unter leuchtendem Sternenhimmel zieht sich die schier endlose Lichterkette über die schwarze Berglandschaft und immer wieder stehen Menschen an der Strecke und klatschen. Vom Deutschen Haus laufen Axel, Gerald, Marius und auch Thomas den UTMB. Die Frauen von Axel und Gerald beobachten den Rennverlauf per Internet und sind beruhigt, als sie im LiveTrail-Tracking sehen, dass die beiden mit geringem Abstand durch die Nacht traben: “Die beiden laufen zusammen. Bin ich froh! Da schlafe ich ruhiger”, ist Geralds Frau erleichtert. Axel genießt indes die sternklare Nacht: “Auf einem Stück Teerstraße habe ich meine Stirnlampe ausgeschaltet, um den Sternhimmel zu betrachten — unglaublich diese Pracht!” An der Kontrollstation vor dem Col du Bonhomme sagten sie ihm: “Du ziehst jetzt deine lange Hose an, sonst lassen wir dich nicht weiter.” “Das war auch gut so”, meint Axel. “Dort oben hat der Wind gepfiffen, das kannst du dir nicht vorstellen! Bei Regen möchte ich diese Strecke nicht laufen müssen.” Gerald hingegen geht es in der ersten Nacht schlecht. Schon vor dem Lauf hatte er Magenprobleme und jeder erfahrene Läufer weiß: Magenprobleme können dich richtig aus der Bahn werfen. In Courmayeur ruft er seine Frau an. Er will ihr mitteilen, dass sie ihm mit dem Auto abholen soll. Sie hat allerdings das Telefon ausgeschaltet und schläft. Gerald läuft schließlich weiter.

Wer kannte schon vor diesem Rennen den 25-jährigen Xavier Thevenard? Vor drei Jahren gewann der Junge aus dem französischen Jura den CCC, der bis dahin sein dritter Ultratrail war. Dieses Jahr lief er zusammen mit den Weltklasse-Läufern Julien Chorier, Miguel Heras und Tony Krupicka an der Spitze des UTMB-Feldes. Nach etwa einhundert Kilometern konnte er sich am Grand Col Ferret von seinen Verfolgern absetzen, so dass diese ihn bis zum Ende des Rennens in Chamonix nie wieder einholten. Doch damit nicht genug. Thevenard lief in 20:34 Stunden eine neue Rekordzeit auf der Strecke. Tony Krupicka plagte seine hintere Oberschenkelmuskulatur und er schied in Trient aus.
Bei den Damen führte Núria Picas auf den ersten Kilometern das Rennen an und konnte sich etwas Vorsprung vor ihren Verfolgerinnen erarbeiten. Dieser Vorsprung wurde von Rory Bosio am Col du Bonhomme aufgeholt und Bosio führte fortan das Rennen bei den Frauen an. Sie lief den Lauf ihres Lebens, scherzte an Verpflegungsstationen mit den Helfern und pulverisierte den alten Streckenrekord von Krissy Moehl um fast zwei Stunden. Sie finishte in 22 Stunden und 37 Minuten und lag damit auf Rang Sieben der Gesamtwertung hinter Julien Chorier. Sie ist damit die erste Frau, die es beim UTMB unter die besten Zehn der Gesamtwertung geschafft hat.
Das Deutsche Haus feierte mit seinen vier UTMB-Teilnehmern vier glückliche Finisher. Gerald lief auf einen fabelhaften 258. Platz in Chamonix ins Ziel und Axel landete bei seiner UTMB-Premiere sogar auf dem Treppchen seiner Kategorie. Thomas und Marius wurden am Sonntagmorgen von Julia Böttger im Ziel empfangen und beglückwünscht.
Der UTMB versammelt jährlich die Elite der Szene und das nicht zuletzt durch das Punktesystem bei der Anmeldung. Eine Auswahl der Teilnehmer, die über die Höhe des Startgeldes geregelt wird, wurde hier bisher vermieden. Die Strecke ist ein landschaftliches Highlight, technisch nicht zu schwierig, nicht zu hoch gelegen und durch die vielen Höhenmeter eine beachtliche Herausforderung für jeden Teilnehmer. Wer die Atmosphäre vor Ort, die Professionalität der Organisation und Qualität dieser Veranstaltung in Chamonix erlebt hat, der wird verstehen, dass sich die Frage nach einer Weltmeisterschaft über 100 Meilen damit erübrigt.