In zwei Reihen stehen die 25 Teilnehmer der Erstaustragung des Trans-Atlas Marathon (TAM) hinter der Startlinie. “Die erste Reihe könne genauso gut bei den Olympischen Spielen am Start stehen”, flüstert mir der neuseeländische Unternehmensberater Mike in mein rechtes Ohr, ein netter Kerl mit völlig überpacktem Trekkingrucksack. Links neben mir steht Basti Haag: Speedbergsteiger, Extremskifahrer und Produktentwickler von UvU. Im Hintergrund krächzt derweil die Vangelis-Hymne aus völlig übersteuerten Lautsprechern. Vor mir zappeln 15 drahtige marokkanische Laufmaschinen, alles Freunde der Brüder Mohamad Ahansal und Lahcen Ahansal. Mohamad und Lahcen haben den Marathon des Sables — das ist DER prestigeträchtigste Wüstenlauf der Erde — zusammen vierzehnmal gewonnen. Ihre Freunde hüpfen völlig aufgedreht vor mir im Staub der Startlinie und genießen das Blitzlichtgewitter und die Atmosphäre vor dem Start. Einige von ihnen erhalten hier erstmalig die Möglichkeit, ihr Können vor einem internationalen Publikum zu präsentieren. Große internationale Laufmagazine sind vertreten und der zweite öffentliche marokkanische Fernsehsender 2M TV überträgt täglich im Sportteil der Abendnachrichten vom Lauf.

Was erwarte ich von einem Lauf, den ein Weltklasse-Trailläufer organisiert? Das Kursbuch kündigt 275 Kilometer und 15 000 Höhenmeter an, das sind in etwa die Anforderungen vom Gore-Tex Transalpine Run (TAR); uns bleiben dafür sechs Tage Zeit, statt der acht Etappen beim TAR. Ruhetag gibt es keinen! Von Mohamad erwarte ich anspruchsvolle, aber laufbare Trails im Hohen Atlas. In meinem Rucksack möchte ich keine Expeditionsausrüstung tragen, dennoch soll die Pflichtausrüstung ausreichend Schutz vor dem extremen Klima bieten. Daher werden wir jeden Morgen unsere Reisetasche abgeben, um sie am Abend im nächsten Lager wieder in Empfang zu nehmen. Übernachtungen bei Einheimischen gehören für mich zu diesem Lauf wie die lokale Küche, denn erst dadurch bekomme ich einen Einblick in die Kultur und den Alltag der Berber. Magenverstimmungen werden dabei bewusst in Kauf genommen. Verpflegungspunkte? Die Micropur-Tabletten in der Pflichtausrüstung deuten an, dass es davon nicht viele geben wird. Was diese Premiere bringt, können die 25 Teilnehmer nur erahnen.
Kurz nach dem Start blicke ich mich um und stutze irritiert. Eine Traube von zehn Berber-Läufern umgibt mich. Diese Jungs laufen sich lockeren Schrittes warm und schießen obendrein Fotos mir ihrer kleinen Digitalkamera. Als wir an einer Brücke rechts auf einen halsbrecherischen Trail abbiegen und von der Ehrenrunde durch das Dorf Zaouiat Ahansal erneut in Richtung Startlinie laufen, erhalte ich einen Vorgeschmack ihres atemberaubenden und technisch perfekten Lauftstils: Wie ein Vogelschwarm erhöhen sie schlagartig ihr Tempo und fliegen wild und frei in Richtung der klickenden Kameras und wartenden Würdenträger. In dem Augenblick als ich die Startlinie erneut passiere, bemerke ich Lahcen am Streckenrand und blicke für einen Moment in ein väterlich mahnendes Lächeln, das er seinen Jungs entgegenwirft — bloß nicht zu schnell anfangen, die Woche wird noch sehr lang.
Prolog — 54 Kilometer
Die erste Tagesetappe schlägt bereits mit 54 Kilometern und mit 2400 Höhenmetern zu Buche, dennoch laufen die jungen Berber durch das ausgewaschene Flussbett der ersten 1000 Höhenmeter-Rampe mit einer Leichtigkeit, die mich an die Schilderungen in McDougalls “Born to Run” erinnert. Die Landschaft ähnelt der in den Star-Wars-Filmen — karge, braune Gebirgslandschaften erstrecken sich vor mir, dazwischen schimmern vereinzelt grüne Oasen. Ab und zu begegnet mir Obi-Wan Kenobi in braunem Gewand mit Kapuze, eine Ziege oder ein Schaf auf der Schulter tragend. Der Trail ist so wild wie seine Heimat. Den Großteil der Etappe laufen wir auf über 2000 Metern Höhe, was ich deutlich am Schnaufen meiner marokkanischen Begleiter vernehme. Nach den Erfahrungen beim UTAT (siehe Blogeintrag UTAT) bin ich dieses Jahr ausreichend akklimatisiert und kann besonders bergauf und während der technischen Abschnitte punkten. Die flachen Abschnitte gehören den Tarahumara. Die Versorgung während des Laufes ist minimal. An zwei bis drei Punkten wartet ein Geländewagen, und jeder Läufer erhält eine Flasche Wasser. Den Rest musst du im Rucksack haben!
Ausfall
Etappe Zwei fällt aus! Über Nacht hat es geregnet, Straßen weggespült und auf den Hochebenen geschneit. Infolgedessen erwartet uns eine siebenstündige Busfahrt auf schmalen Pisten, machmal näher am Abgrund als uns lieb ist. Als unser Konvoi die nächste Unterkunft erreicht, empfängt uns das Dorf mit einem Volksfest der besonderen Art: Am gefühlten Ende der Welt tanzt ein Dorf in traditionellem Gewand für uns und singt im Chor. Ich reihe mich in eine riesige Polonaise und wir tanzen durch die Nacht. Mohamad bemüht sich ausdrücklich um die Nähe zu den Einheimischen. So ist es uns Läufern gestattet, ja sogar gewünscht, Speisen und Getränke vor Ort zu kaufen, sowohl während des Rennens als auch danach.
Dritte Etappe — 42 Kilometer
Nach dem gemeinsamen Abendessen findet die Wettkampfbesprechung für die dritte Etappe statt und Mohamad bemerkt freundlich: “The time limit is 14 hours and if you can’t do it in 14 hours, we will wait for you at the finish line.” Eventuell gibt es nur einen Versorgungspunkt auf der heutigen Marathondistanz, da die Zugangsstraßen abermals weggespült wurden. Am nächsten Morgen sind die Beine der Berber-Jungs wieder frisch und wir schießen im gewohnten Eiltempo gen Sonnenaufgang durch das prächtigste Dorf des Hohen Atlas. Der Kerl vor mir ist hochmotiviert, so kürzen wir alle Serpentinen ab und hecheln bei maximalem Anstieg mit maximaler Herzfrequenz gen Himmel. Oben angekommen, bemerken wir schließlich, dass unsere Verfolger inzwischen abgebogen sind, da wir eine der Markierungen übersehen haben. Nach der dritten Irrfahrt übernehme ich fluchend die Führung und folge stur den Markierungen. Wenig später überholt uns Omar, ein heimischer Bergführer, der heute erstmals als Gast mitläuft. Dran bleiben, denke ich! Der kennt sich aus. Omar trabt seelenruhig vor mir her, schaltet allerdings in unregelmäßigen Abständen in den Sprintmodus, was mich an den Rand der Verzweiflung bringt. Seine Taktik funktioniert besser als erwartet, denn nach zwanzig Kilometern bricht er selbst ein und ich betrete die Südseite des Hohen Atlas in völliger Einsamkeit. In diesem Augenblick breitet sich vor mir der graue Dunst der unendlichen Sahara aus und ein warmer, trockener Wüstenwind weht mir auf 2800 Metern ins Gesicht. Den Sand in der Luft kann ich förmlich schmecken.
Die nächsten Stunden verbringe ich allein, nur Schafe, Ziegen und einzelne Hunde kreuzen meinen Weg. Erst wenige Kilometer vor dem Ziel erreiche ich eine grüne Oase und treffe auf Gesellschaft. Ein kleiner Junge hat mich erspäht und läuft zu mir heran. Er ist nicht älter als fünf Jahre. Wir begrüßen uns mit Handschlag und toben anschließend wie Geschwister über die felsigen Trails am Rande des grünen Idylls. “Wuaaaa” rufe ich jedes Mal ängstlich, wenn er neben mir von einem dieser schulterhohen Felsblöcken springt, da landet er bereits federleicht im Staub und lacht. Ich dagegen fühle mich wie ein träges Rhinozeros. Auf unglaublichen vier Kilometern albern wir herum und lassen die Fetzen fliegen, so dass der Zieleinlauf danach zur Formsache wird. Das breite Grinsen verharrt an diesem Abend noch lange in meinem Gesicht.

Vierte Etappe — 40 Kilometer
Die ersten zwanzig Kilometer dieser Etappe verlaufen relativ flach, und ich bin bemüht, die führenden Marokkaner nicht aus den Augen zu verlieren. Beim ersten Verpflegungspunkt habe ich den Zweitplatzierten hinter mir gelassen und zum Führenden, zu Ali, aufgeschlossen. Wir nippen genüsslich süßen Minztee aus kleinen Gläsern, bevor wir gemeinsam in den längsten Anstieg des Tages traben. Ab diesem Punkt zolle ich dem hohen Anfangstempo Tribut und verbringe daraufhin den Rest der Etappe allein.
Royal Stage — 66 Kilometer, 4500 Höhenmeter
Die Königsetappe macht ihrem Namen alle Ehre. Völlig ohne Markierungen verlassen wir uns am frühen Morgen erneut auf die Orientierung eines einheimischen Läufers. Erfreulicherweise haben wir wieder einen Berber-Läufer im Feld, der sich in dieser Region auskennt. Auch Basti Haag ist als zweiter deutscher Teilnehmer ganz vorn mit dabei. Etwas später erreiche ich mit Ali ein gigantisches Hochplateau, auf dessen Boden Werkzeuge ausgegraben wurden, die bis ins vierte Jahrtausend vor Christus zurückreichen. Die Stimmung ist gut und wir tauschen Datteln gegen geröstete Cashew-Nüsse vom Aldi. Wer jemals von Nomadenhunden angegriffen wurde, der weiß, solange die Köter bellen, ist alles in Ordnung. Falls ihr allerdings eine rotierende Staubwolke auf euch zu rasen seht, die sich in den Kurven beinahe überschlägt, dann ist Gefahr im Verzug. Völlig synchron schnappen sich Ali und ich Steine vom Boden und drehen uns um. Drei zerzauste Nomadenhunde rasen wie besessen auf uns zu. Ich werfe sofort und einer der Hunde jagt augenblicklich meinem Stein hinterher, die anderen Beiden gehen auf uns los. Im überschlagenen Rückzug werfen, laufen und werfen wir, bis die Hunde schließlich von uns ablassen — unseren Verfolgern viel Glück! Nach etwa vierzig Kilometern treffen wir auf eine Teerstraße und verpflegen uns kurz mit Wasser. Ab jetzt wirds lustig! Die Jungs von 2M TV filmen uns aus dem Geländewagen, die Einheimischen am Straßenrand klatschen und Ali dreht so richtig auf. An meiner Ehre gepackt, muss ich natürlich mithalten und klebe in brütender Hitze auf kochendem Asphalt wie eine Klette an Alis Ferse mit stetem Blick in die Kamera. Auf geschätzten fünf Kilometern brüllt mein Hirn: Langsamer du Idiot, da kommt noch mehr! Die folgenden Kilometer bezahle ich teuer. Die Sonne brennt auf mich herab, während Lahcen und Mohamad uns aus Geländewagen mit Wasserflaschen versorgen. Ich bilde mir ein, dass es jedes Mal zischt, wenn ich mir das Wasser geradewegs über den dampfenden Körper gieße. Das Gefühl, von einem der besten Läufer der Welt eine Flasche Wasser in die Hand gedrückt zu bekommen, ist unbeschreiblich. Der letzte 3200 Meter hohe Pass wird zur Qual. Ali gewinnt verdient mit zwei Minuten Vorsprung und ich bin mächtig stolz — was für ein Lauf!

Finale — 17 Kilometer
Die letze Etappe startet in Oukaïmeden auf über 2600 Metern. Dieses marokkanische Skigebiet kenne ich bereits vom vergangenen Jahr und kann mich noch gut an das beste Restaurant erinnern: Hotel Chez Juju! Am Morgen vor dem Lauf sitze ich mit Mike und Basti vor dampfendem Cappuccino in kolonialem französischen Ambiente. Für Basti geht es heute um das Podium … vermuten wir jedenfalls. Die Gesamtplatzierung ist nicht ganz offensichtlich, aber eins ist klar: Basti muss heute kämpfen! Die Berber-Jungs wissen das leider auch und so poltern beim ersten höllischen Downhill zunächst Basti und anschließend drei Marokkaner donnernd an mir vorbei, als ich genüsslich die Serpentinen auslaufe. Mohamad hat sich die besonders technischen Passagen für die letzten Kilometer aufgehoben und ich bin froh, alle verbliebenen Teilnehmer heil und glücklich in Imlil einlaufen zu sehen. Hier endet das Rennen und eine lange Reise geht damit zu Ende.