Der Gobi March zählt zu den spektakulärsten Extremläufen unseres Zeitalters, denn er führt seine Teilnehmer über eine Distanz von 250 Kilometern durch eine der entlegensten Regionen dieser gigantischen, lebensfeindlichen Wüstenlandschaft im Herzen Asiens. Extreme Hitze, klirrende Kälte und beißende Winde sind die täglichen Begleiter derer, die sich auf dieses Abenteuer wagen. Seit mittlerweile elf Jahren veranstaltet RacingThePlanet diesen Etappenlauf und dieses Jahr bereitete ich den Teilnehmern als Course Director ihren Weg.

Die Anreise führte mich über die chinesische Hauptstadt Peking nach Urumqi, einer Millionenstadt am Rande der Wüste in der Provinz Xinjiang. Urumqi ist seit jeher geprägt durch verschiedenste kulturelle Einflüsse, was ich direkt nach meiner Ankunft an den dreisprachig beschrifteten Verkehrsschildern ausmache; leider umfasst mein Sprachschatz keine dieser Sprachen. Wurden die mehrspurigen, breiten Stadtautobahnen Urumqis noch vor wenigen Jahren hauptsächlich von Eselkarren befahren, werden sie heute dem drastisch gestiegenen Verkehrsaufkommen der Stadt kaum noch gerecht und die Eselkarren sind nahezu vollständig von der Fahrbahn verschwunden. Lediglich auf den Randstreifen verirren sich vereinzelt Fußgänger und Radfahrer, was den Fahrer unseres Geländewagens nicht weiter zu irritieren scheint, denn dieser erklärt den Randstreifen regelmäßig zu seiner Überholspur und verursacht damit bei uns Insassen eine zwanghafte innere Unruhe. Von der Provinzhauptstadt Urumqi fahren wir ca. 450 Kilometer weiter gen Westen in Richtung des äußersten Zipfels Chinas in die chinesische Stadt Bole (Bortala).
Hin und wieder tauchen am Horizont gigantische, gleißende Industrieanlagen der Größe einer Stadt auf, sonst ist es pechschwarz um uns und die lebensfeindliche Wüstenlandschaft zu beiden Seiten der schnurgeraden Autobahn lässt sich im Dunkel der Nacht nur erahnen. Wir passieren heillos überladene LKW mit blinkender Leuchtreklame oder gänzlich ohne Beleuchtung. Gegen 03:30 Uhr verliert sich die Teerstraße urplötzlich in eine staubige Piste, denn wir rumpeln in eine Baustelle. Als ich am Straßenrand eine leblose Person bemerke, bitte ich unseren Fahrer zu stoppen. Offenbar wurde die Schotterpiste einem Motorradfahrer zum Verhängnis, der jetzt schreiend und blutverschmiert auf der Fahrbahn liegt. Wir sichern die Unfallstelle, alarmieren den Rettungsdienst und leiten den nächtlichen Schwerlastverkehr zentimetergenau an seinem Körper vorbei. Gegen 05:00 Uhr und nach insgesamt knapp 40 Stunden Reisezeit erreichen wir die Retortenstadt Bole und die Vorbereitungen für den Lauf können endlich beginnen.

Auf die Teilnehmer wartet ein Etappenlauf über sechs Etappen mit Einzeldistanzen zwischen 14 und 68 Kilometern und bis zu 2500 Höhenmetern pro Tag. Die Planung dieser Strecke sowie aller logistischen Abläufe während des Rennens obliegen mir; bei der Markierung unterstützen mich Pavel und Dominik – beide sehr erfahrene und zähe Langstreckenläufer, auf die ich mich voll und ganz verlassen kann. Noch bevor die ersten Teilnehmer in das Camp vor dem Start des Rennens verlegen, haben wir die 47 Kilometer der Auftaktetappe bereits vollständig mit kleinen pinkfarbenen Fähnchen markiert. Per Funk erfahre ich, dass das vermeintlich sichere Camp über Nacht durch einen Wüstensturm vollständig demontiert wurde und der Campmanager Hernan die Nacht unsanft, in Zeltplanen gewickelt, und an einen Generator geklammert, verbracht hat. Um den Läufern diese Erfahrung zu ersparen, bringen wir sie in der Nacht vor dem Start in einer nahegelegenen, verlassenen — zugegebenermaßen hässlichen — Bergbausiedlung unter. Während sich Dominik ein Zimmer mit einer hässlichen Hundeminiatur teilt, übernachte ich mit Hernan unter freiem Himmel und bete für beständiges Wetter. Extreme klimatische Bedingungen erfordern ein gewisses Maß an Flexibilität und Respekt gegenüber der Natur, so plane ich die erste Etappe um, noch bevor der erste Läufer die Startlinie auch nur in Sichtweite bekommt.
Während die Dornbüsche und die steinigen Trails der Gobi noch vom Mantel der Nacht umhüllt sind, trabt Pavel bereits behutsam mit Stirnlampe über den Schotter und überprüft die Markierungen der ersten Etappe. In der Zwischenzeit beladen die freiwilligen Helfer die Geländewagen der Checkpoints mit Wasser und Hernan schürt uns im Camp ein Feuer, damit wir unseren Instant-Kaffee und unser Müsli mit warmem Wasser aufgießen können. Sind die Teilnehmer um 08:00 Uhr auf der Strecke, stehen alle Checkpoints in Abständen von ungefähr 10 Kilometern wartend in Position und das Course Team widmet sich der Markierung der Etappe des Folgetages. Die Auftaktetappe sorgt für ausgezeichnete Stimmung im Läuferfeld, denn sie führt durch eine Fabellandschaft, die mit bizarren, vom Wind geformten Felsen, durchsetzt ist. Zum Glück ahnen die Läufer nicht, dass mit der zweiten Etappe eine weniger spannende, dafür aber deutlich forderndere, mit trockenen Flussbetten durchsetzte, Gerölllandschaft auf sie wartet.

Als am dritten Tag das Wetter kippt und Dominik unsere pinkfarbenen Fähnchen im Schnee vorfindet, ist der Lauf längst gestartet und die ersten Athleten nähern sich ihm bereits. Erneut bewährt sich unser flexibles System und wir erklären eine nahegelegene Yurtensiedlung zum Camp und markieren die Strecke in Windeseile um. Noch bevor der erste Läufer schlotternd in eine der Yurten schlürft, haben die Nomaden Teppiche ausgelegt und die Yurten eingeheizt. Seit ich diese Siedlung kennengelernt habe, ist mir Schafkopf nicht nur als Kartenspiel bekannt, sondern zusätzlich in gekochter Form als Abendessen. Zusammen mit dem salzigen Milchtee zum Frühstück hält sich hier meine kulinarische Begeisterung stark in Grenzen.
Das Highlight des Laufes bildet seit jeher der “Long March”. Die fünfte und längste Etappe führt nicht nur die Teilnehmer an ihre Grenzen, sondern ist auch für die gesamte Organisation eine enorme Belastung, da sie die Masse der Läufer auf einer großen Distanz und über mehr als 24 Stunden betreut. Zwei gewaltige Pässe weit über 2000 Meter sind von den Teilnehmern zu bewältigen, bevor sie den unvergesslichen Blick auf den Sayram See erhalten. Der Sayram See ist ein 2000 Meter hoch gelegener, kristallklarer und azurblauer Bergsee, der von Blumenwiesen umgeben ist, die an einen überdimensionalen Golfplatz erinnern. Durchziehende Stürme mit Schnee und Hagel sind in dieser Region auch im Sommer an der Tagesordnung und es ist mir ein Rätsel, wie Menschen in diesem lebensfeindlichen Klima überleben und leben können. Immer wieder stehe ich staunend vor Kasachen und Mongolen, die mit ihren Pferden über diese Farbteppiche traben und mich während der Markierungsarbeiten begrüßen. Die Leichtigkeit und Eleganz sowie der kraftvolle Schritt einer Pferdehorde in diesem, ihrem Element, ist an Schönheit kaum zu überbieten.

Während die langsamsten Läufer und letzte Teile der Organisation erschöpft aber vollzählig das sechste Camp am Ufer des Sees erreichen, nähert sich das Schnarchkonzert in den Zelten seinem Höhepunkt. Der Tag vor der finalen Etappe wird von allen gleichermaßen zum Lecken der Wunden genutzt, denn die sechste Etappe schlägt lediglich mit 14 Kilometern zu Buche und stellt keine ernstzunehmende Hürde mehr dar. Im Camp spielen sich bizarre Szenen ab: Während die Spanier ihre Oberkörper in der Höhensonne braten, sitzen die Japaner und Chinesen völlig vermummt im Schatten. Sie haben jeden Millimeter ihres Körpers verdeckt, um die Sonneneinstrahlung und deren bräunende Wirkung auf ihre Hautfarbe zu minimieren. Die Jungs aus Polen haben sich für die spanische Variante entschieden und sind mittlerweile krebsrot. Pulver für Kartoffelpampe wechselt ebenso den Besitzer wie Lachs aus der Dose oder gefriergetrocknetes Elchragout aus der Tüte. Das Ärzteteam behandelt weiterhin unzählige Blasenfüße im Medic-Zelt, das mittels iPhone in ein Partyzelt umfunktioniert wird. Der Gang zum Toilettenloch ist für einige die maximale Herausforderung des Tages — es herrscht eine Bombenstimmung!
Die letzten Meter des Laufes verbringen die Teilnehmer am Ufers des gigantischen Sees, der am heutigen Morgen keine Wellen wirft, sondern sich behutsam in den Schleier eines hauchdünnen Nebels hüllt. Der Läufer Pit aus Deutschland bemerkt im Ziel: “Bereits bevor ich das Ziel vor Augen hatte, konnte ich euch hören.” Dieser Kommentar überrascht keineswegs, denn hinter der Ziellinie erwartet die Läufer eine Partyzone, beschallt von einer lokalen Musikgruppe und krachendem Techno im Wechsel. Über dreißig Nationen tanzen ausgelassen und aufgedreht wie Kleinkinder im Kreis. Zum gebührenden Empfang gibt es Reis mit Ei, Wassermelone und natürlich Bier nach deutscher Brauart. Am Ende sind wir alle müde, erleichtert und auch ein wenig stolz, diesen Jungs und Mädels ein unvergessliches Erlebnis bereitet zu haben.
