Der 40-Stunden-Tag

Nach fast 2 Jahren Abstinenz bin ich endlich wieder bei einem Ultra-Trail unterwegs und dann gleich ein 100-Meiler in der Schweiz — das nur spannend werden.

Das kleine, verschlafene Schweizer Dorf Grächen liegt in sicherer Entfernung, etwa 20 Kilometer vor der Touristenhochburg Zermatt. Statt Hotelburgen ragen hier mit Geranien geschmückte Walserhäuser empor und viel weniger Touristen verirren sich in das Bergdorf. Grächen ist Start und Ziel für die Ultra Tour Monte Rosa (UTMR) – die Trainingsrunde von Lizzy Hawker. Diese Runde diente Lizzy viele Jahre als Vorbereitung für den berühmten großen Bruder, den Ultra-Trail du Mont-Blanc (UTMB).

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Mit 170 Kilometern und 11.300 Höhenmetern erscheint die Runde auf den ersten Blick unwesentlich anspruchsvoller als der große Bruder. Auf unserer sechsstündigen Hinfahrt fragt meine Frau Judy: “Was meinst du, wie lang brauchst du?” Ich überschlage kurz im Kopf: “Ich bin in mäßiger Form, beim UTMB bedeutet das ca. 27-28 Stunden, also brauche ich voraussichtlich 30 Stunden.” Judy meint: “Thomas, das ist der aktuelle Streckenrekord. Ich glaube, so schnell bist du nicht.” Könnte etwas länger dauern, denke ich.

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Grächen ist ein wunderbarer kleiner Ferienort mit wenigen Besuchern im Vergleich zum nahegelegenen Zermatt

Mit hängenden Schultern stehe ich im Ortskern von Grächen. Links am Arm baumelt die Reisetasche, rechts der Laufrucksack. Neben uns ein kleiner Brunnen, davor steht ein Festzelt auf grüner Wiese. So kenne ich das von Dorffesten in meinem Leipziger Heimatdorf. In einer Turnhalle ist Ausrüstungskontrolle. Hier treffe ich Daniel Heideck, der sich gerade auf dem Tor des Geants vorbereitet und beim UTMR aushilft. Die Kontrolle der Pflichtausrüstung wird nicht ohne Grund penibel genau genommen. In den Bergen werden kleine Fehler hart bestraft.

Folgende Pflichtausrüstung steht auf der Liste:

  • Mobiltelefon
  • Zwei Stirnlampen mit jeweils Ersatzbatterien
  • Trinkflasche oder -blase mit mindestens 1.5 Litern Kapazität
  • Notration in verschlossener Ziplock-Tüte mit mind. 400kCal
  • Notfallsack (keine Notfalldecke)
  • Pfeife
  • Elastische Haftbandage (1m x 6cm)
  • Atmungsaktive, wasserdichte Jacke mit Membran (10.000mm Schmerber)
  • Wasserdichte Hose
  • Warme langärmelige Top-Schicht
  • Mindestens knielange Laufhosen
  • Warme Mütze
  • Handschuhe
  • GPS-Tracker
  • Ausweis

Da das Wetter in den nächsten Tagen umschlagen soll, packe ich die Winterausrüstung ein, in mehrfacher Ausfertigung versteht sich. In den Höhenlagen sind Temperaturen unter 0 Grad und in den Tälern über 30 Grad keine Überraschung. Kommt dann noch etwas Wind und Niederschlag hinzu, werden die Bedingungen schnell lebensfeindlich.

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Der Ausblick entschädigt dafür, dass wir auf einem anderen Berg wohnen

Lebensfeindlich sind auch die Schweizer Preise, jedoch fördern sie unsere Kreativität bei der Logistik. Das günstigste AirBnB liegt 30 Kilometer entfernt, dazu fahren wir gefühlt endlos Serpentinen auf einen anderen Berg. Judy hat irgendwann genervt aufgehört die Kehren zu zählen. Gegen 22 Uhr stehen wir vor einem dunklen Haus. Start des Rennens ist gegen 4 Uhr. Drei Stunden Schlaf müssen ausreichen.

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Schweizer Hütten im Walser-Stil

Um 4 Uhr stehe ich mit weiteren 146 Läufern unter Sternenhimmel auf dem Dorfplatz von Grächen. Es ist still, kein Vangelis, keine Zuschauer, nur die Sterne leuchten. Bloß keinen wecken, müssen sich die Organisatoren wohl denken. Dann trabt das Feld los wie eine Schafherde ins Verderben. Ich hänge mich an meinen Lauffreund Axel und wir lassen es locker angehen. Einen 100-Meilen-Lauf gewinnst du nicht auf den ersten 50 Kilometern.

Wir laufen ins Tal, dort werden wir fehlgeleitet. Scheinbar weiß der Rest, wo es langgeht und läuft auf der anderen Flussseite an uns vorbei. Jetzt sind’s 172 Kilometer — Rundungsfehler, denke ich.

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Die Europabrücke – die alte Brücke liegt unterhalb zerschellt im Geröll

Im Morgengrauen wird es etwas wärmer und wir traben auf den ersten Sonnenstrahlen über den Europatrail durch das Mattertal. Nach einer Europabrücke steht neben uns im Wald ein Steinbock — wir halten kurz inne. Das Matterhorn lugt um die Ecke und ein Panorama auf die umliegenden Viertausender baut sich auf. In Zermatt ist die Verpflegungsstation auf einem Parkplatz. Das ist zwar nicht sehr romantisch, dafür versichert mir die Oma am Verpflegungspunkt, dass die Suppe hausgemacht ist. Ich bin noch im Genießermodus unterwegs.

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Die Verpflegungsstation in Zermatt ist etwas nüchtern gestaltet – hier das Zelt mit den Versorgungssäcken

Nach Zermatt steigen wir hinauf zum Theodul-Pass und hinüber auf die Italienische Seite, das heißt über den Gletscher rauf auf 3300 Meter. Der Gletscher ist unspektakulär. Die Snowboarder, die mir auf Blankeis entgegen schaben, tun mir leid. Spannender ist der Schneeregen, der mir ins Gesicht peitscht. Ich könnte jetzt Klamotten wechseln, doch meine Verfolger treiben mich und sie nerven, also durchhalten. Es hat auch nur 50 Kilometer gedauert, bis ich im Rennmodus angelangt bin.

Hinter dem Pass liegt der Lago Cime Bianche, der sieht aus wie ein Speichersee für Schneekanonen. Eine Mondlandschaft mit Stahlskulpturen tut sich auf. Die Kälte setzt der kleinen Japanerin vor mir zu. Ich agiler Laufstil geht allmählich in den Robotermodus über. Gleich bleibt sie stehen, denke ich. Mit zwei anderen Läufern erklimme ich den nächsten Pass. Beim Abstieg schüttet es wie aus aus Eimern, das “Tap Tap” der Schuhe wird zum “Patsch Patsch” und die Kuhfladen lösen sich in den Pfützen auf. Auf der Wiese vor mir sitzt ein Fotograf wie ein Frosch im Feuchtbiotop. Vor ihm werfe ich meinen Rucksack ins Gras und mir die Regenjacke über. Mit jedem Schritt schmatzen meine Socken und die Steine sind jetzt wie mit Öl bestrichen. Ein falscher Schritt das wars.

Das Rifugio Ferraro dampft wie eine Sauna. Innen ist es brütend warm, zwei asiatische Läuferinnen fragen mich, ob ich ein Taxi mit ihnen teile. Ich erwidere: “Nein, ich wollte den Rest auch noch laufen.” Sie sind raus und müssen jetzt selbst sehen, wie sie von Italien zurück in die Schweiz kommen.

Bis nach Gressoney sollten es jetzt nur elf Kilometer sein, doch die Etappe scheint endlos. Hinter jeder Kuppe, erhebt sich die nächste. Es ist einsam und wild hier oben, die Landschaft im Grau. Gressoney präsentiert sich trostlos und verschlafen, ganz anders als beim Tor des Geants. Mein Magen rebelliert, das nasskalte Wetter und die kalten Getränke bekommen ihm nicht. Ich muss kurz pausieren, bestelle Nudeln mit Parmesan. Als ich nach Tomatensoße frage, schauen mich die Helfer verdutzt an: Tomatensoße gibt es nicht. Es staubt im Mund vor Trockenheit. Als ich nach warmem Tee frage, wird Tee gekocht, einzeln und in Tassen. Jetzt fehlt der Trichter, um ihn in meine Flaschen zu füllen. Ich bemühe mich nicht die Stirn zu runzeln und gehe einfach, sie meinen es ja alle nur gut.

Der nächste Anstieg wird lang und zach. Mein Magen dreht sich im Kreis, mir fehlt die Energie und mit zunehmender Höhe wird mir schwindelig. Über mir leuchten wieder die Sterne, hinter mir die Stirnlampen der Verfolger. Oben treffe ich Daniel wieder. Mir geht es elend. Daniel muntert mich auf und ich beschließe, langsam ins Tal zu traben, um dort zu pausieren. Im Kopf habe ich Rennen beendet, jetzt zählt Ankommen. Den UTMB habe ich in so einer Situation mal abgebrochen, das war Quatsch. Pause hilft. Der Abstieg geht schnell, unterwegs laufe ich durch das kleine Bergdorf Alagna Valsesia mit seinen bezaubernden und puristischen Häusern im Walserstil. Hier möchte ich bleiben. Die Holzhäuser passen sich perfekt in die Umgebung ein. Um die Körperwärme der Tiere zu nutzen, leben beide unter demselben Dach.

Ich plane ganze zwei Stunden Schlaf, als ich die Tür zum warmen Checkpoint in Alagna aufschiebe. Die Helferin fragt mich direkt: “Wie lange magst du schlafen, 20 Minuten?” Um mir hier nicht als Langschläfer die Blöße zu geben, antworte ich demütig: “30 Minuten?” Ich schlürfe genüsslich die Tomatensoße von meinem Teller Nudeln, lege mich auf eine der weiß bezogenen Liegen und schließe die Augen.

Nach knappen 30 Minuten trabe ich erneut in die Nacht. Auf den nächsten 20 Kilometern erwarten mich 1700 Höhenmeter im Auf- und Abstieg ohne Verpflegung — wahrscheinlich die schwerste Etappe der Tour. Ein Geröllhaufen schlängelt sich hinauf zum Turlopass – die Walser nennen das historische Straße. Plötzlich taucht vor mir eine Sternenwolke auf. Ich glaube, mich verlässt nun endgültig die Vernunft. Als sich die Wolke bewegt, stellt sich heraus, dass die vermeintlichen Sterne die funkelnden Augen einer Kuhherde sind, die auf dem Weg liegt. Leise stapfe ich durch die schlafenden Rindviecher, um diese nicht auch noch zu wecken. Der Bulle hat mich längst bemerkt, hält aber Sicherheitsabstand. Oben am Turlopass setze ich mich auf einen nassen Stein und starre für einige Minuten in der Dunkelheit auf die nassen Felsen. Gefühlt bin ich über den Berg, jetzt muss ich nur noch ins Ziel kommen.

Der Abstieg ist der Horror und ich verfluche die Walser erneut. Der Walser Geröllhaufen schlängelt den Berg hinunter. Unmöglich, dass hier ein Karren fahren könnte, selbst mir Crossbike wäre das ein Himmelfahrtskommando. Meine Füße ächzen, die Steine drücken mir Blasen in malträtierten Füße. Endlose Kehren führen mich ins Tal. Der kleine Checkpoint bei Quarazza ist kaum der Rede wert, gute Verpflegung gibt es hier nicht. Ich bekomme ein Pflaster und klebe es provisorisch über eine geplatzte Blase. Im Schuh wabert mittlerweile ein Gemisch aus Blut und Schlamm zwischen den Zehen.

Macugnaga

Im Dorfzentrum von Macugnaga erblicke ich Judy und freue ich mich wie eine Kind. Sie ist über Nacht über den Simplonpass nach Italien gefahren, sich die Nacht um die Ohren geschlagen und hilft mir bei der Wundversorgung. Es ist jetzt Tag und die Sonne scheint wieder.

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Im warmen Sonnenlicht geht’s die nächsten 1500 Höhenmeter rauf

Mit etwas Pause, gutem Essen und Motivation mache ich mich an die nächsten 1500 Höhenmeter zum Monte Moro Pass. Mit der Sonne kommt die Kraft und die Mädels am Checkpoint höre ich bereits auf halber Höhe kreischen. Die Hütte ist bestens ausgestattet und die Läufer werden mit Leckerbissen und Motivation überschwemmt. So ungefähr kann man sich die Checkpoints beim TDG vorstellen. Vorbei geht es an der übergroßen goldenen Maria hinunter zum Mattmark-Stausee in Richtung Saas Fee. Der Weg nach Saas Fee ist schmerzhaft und lang. Mittlerweile zwickt jeder Schritt und diese scheinen mich Saas Fee nur sehr langsam näher zu bringen.

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Hübsch und teuer – Saas Fee mit dem Blick auf die schmelzenden Gletscher

Zielsprint

Die Strecke von Saas Fee bis Grächen wirkt mit seinen knapp 20 Kilometern fast wie ein Zielsprint. Den Verpflegungspunkt Hannigalp unterschlage ich hier frech. Der Pfad schlängelt sich mehrere Hundert Meter oberhalb des Talbodens eng entlang steiler Berghänge. Da ich diese Etappe bei Dämmerung absolviere, sehe ich zwar in den Abgrund, allerdings sehe ich auch den Pfad. Bei Nacht ist dieser Abschnitt durchaus spannend, jeder falsche Schritt kann hier den Sturzflug einleiten. Auf dem Gaskocher zweier Wegarbeiter brodelt Käsefondue, der Duft steigt mir in die Nase und freue mich, in der Schweiz zu sein. Das Ziel ist nah und die schwächelnden Athleten vor mir steigern meine Motivation. Auf den letzten Metern gebe ich Gas, kassiere noch ein paar Konkurrenten und laufe trotte ins Ziel. Danke Lizzy, das war ein gutes Training.

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